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Eine gewisse Beharrlichkeit vollbringt nicht selten erstaunliche Dinge. Sinnvollste und unsinnigste Unternehmungen in der Geschichte der Welt sind nur möglich gewesen, weil ein Mensch oder im besseren Falle eine Gruppe von Menschen in einer Sache beharrlich und einfallsreich war. Ganz so wie bei der folgenden Begebenheit, von der ich, nebenbei bemerkt, nur durch groben Zufall Kenntnis erlangt habe. Ich habe in der Wiedergabe natürlich Namen und Rahmen verändert, um meiner beruflichen Schweigepflicht Genüge zu tun. Aber hören Sie selbst...

Johannes Klamm wies schon in den frühen Jahren seiner Kindheit einige Besonderheiten auf. Er hatte einen gespaltenen Zehenagel und ein ausgesprochen inniges Verhältnis zu seiner Heimatstadt. Während Ersteres sein Leben nur in geringem Umfang oder gar nicht beeinflusste, so zog sich Letzteres doch wie ein roter Faden durch Kindheit, Jugend und was danach kommt. Die Liebe zu seiner Stadt eroberte ihn unbarmherzig, leidenschaftlich und liebenswürdig zugleich. Auf jeden Fall aber erfolgreich.

Durch eine äußerst geschickte Manipulation der Presswehen gelang es Johannes, seine Mutter vollkommen zu überrumpeln. Für eine Blaulichtfahrt ins Kreiskrankenhaus blieb keine Zeit. Er erblickte quasi beim Kartoffelschälen das Narva-Lampenlicht seiner Heimat. Aus seiner Sicht hatte das folgende Vorteile: Als eine der wenigen Treuener Hausgeburten im Jahre 1963 schaffte er es, in der Lokalpresse erwähnt zu werden. Tausendmal wichtiger war ihm jedoch der Umstand, dass jede Urkunde und Aussage über ihn bis an sein Lebensende und sogar darüber hinaus nur einen Ort seiner Geburt kannte, nämlich Treuen im Vogtland und nicht etwa Rodewisch, wie bei seinen farblosen Freunden.

Nach dieser ersten, aber grundlegenden Aktivität konzentrierte sich Johannes in den folgenden Jahren vor allem auf die Zunahme an Gewicht und geistiger Leistungsfähigkeit. Besondere Beachtung widmete er hierbei dem Aneignen von Schrift und Sprache. Solchermaßen vorgebildet erlebte er die Schule eher als willkommene Abwechslung denn als anstrengende Herausforderung. In den Tagen seiner Jugend streunte er durch die Straßen, rannte über die Wiesen und atmete seine geliebte Stadt. Dabei war sich Johannes schon sehr früh darüber im Klaren, dass er Treuen am besten dienen konnte, indem er es verließ.1982 entschied er sich für die Ausbildung zum Schriftsetzer.

Nichts glaubt der Mensch so unvoreingenommen wie das gedruckte Wort. Nichts wirkt so wahrhaftig und nichts entscheidet so endgültig über Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit wie die Buchstaben, Worte und Phrasen. Schon immer hatte ihn das fasziniert und es war nun an der Zeit, die Sache für sich und seine Stadt zu nutzen. Er zeigte sich gelehrig und einfallsreich und erlangte so ein Zeugnis, das ihm den Weg ebnete und die Türen öffnete.

1985 startete Johannes schließlich seine kuriose Laufbahn durch die Druckfahnen dieser Welt. Wie Münchhausen und Robin Hood zugleich blendete und foppte er die Nation, Europa und die Welt.

Seine erste Tat war harmlos und bedächtig. Während der Nachtschicht und einer Pinkelpause des Kollegen korrigierte er in der Freien Presse das magere Spielergebnis der Treuener Elf gegen Falkenstein auf 4:1 nach oben. Treuen freute sich und Falkenstein schien es wohl zu peinlich, um zu reklamieren. Durch diesen Test ermutigt frisierte Johannes während der nächsten zwei Jahre systematisch Punkte, Weiten und Zeiten der verschiedensten Disziplinen. Und er tat dies im doppelten Sinne erfolgreich: Erstens, weil ihm niemand auf die Schliche kam. Zweitens, weil sich die Leistungen der Mannschaften und Vereinigungen in der Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung in diesen zwei Jahren durch das gewonnene Selbstvertrauen tatsächlich bis auf Olympiakaderniveau hochschraubten. Ein anonymes Mitglied des TLV sagte später dazu: „Wir lasen, dass wir so gut waren, also waren wir es auch.“

Ab 1988 gab es im Sportteil drucktechnisch absolut nichts mehr zu verbessern. Johannes bewarb sich daraufhin beim VEB PlanoGraph in Potsdam. So nannte sich die Zentrale Druckerei der Deutschen Reichsbahn. Bereits im ersten Jahr gelang ihm hier ein einzigartiger Husarenstreich. Er ersetzte im Zentralen Rechner der Fahrzeitenplanung das Kürzel Bf durch Hbf. Fortan verfügte das bisher aus verkehrsplanerischer Sicht unscheinbare Treuen über einen Hauptbahnhof. Diese Tat war so effizient, dass sich die neue Bezeichnung in allen gedruckten Plänen, Aushängen und bis Mitte der Neunziger sogar in den Auskunftsprogrammen der Deutschen Bahn wiederfand. Johannes fuhr wenigstens einmal im Monat eigens nach Dresden, nur um die Ansage „...über Treuen Hauptbahnhof...“ zu genießen.

Er schickte eine fingierte Bestellung an das zuständige mecklenburgische Emaillierwerk. Dort vergewisserte man sich durch Blick in den Fahrplan der richtigen Schreibweise und wenige Wochen später erhielt das Bahnhofspersonal in Treuen sein neues Schild. Selbstredend wurde es klaglos montiert. Bis zur Inbetriebnahme der Regionalbahn konnte man so die Bedeutung der Stadt an ihrem Hauptbahnhof erahnen. In den übrigen zwanzig Monaten in der Fahrplandruckerei kümmerte sich Johannes noch ein wenig darum, dass die Frequenz und Anbindung des Treuener Hauptbahnhofes nichts zu wünschen übrig ließ. Für den Winterfahrplan 1989 gelang es ihm sogar, den Karlex umzulenken.

Mit den gesellschaftlichen Umstrukturierungen seiner Heimat, die den Winterfahrplan 1989 begleiteten, ergaben sich für Herrn Klamm ganz neue Möglichkeiten. Es war Zeit, etwas für die internationale Bedeutung von Treuen zu tun.
Ab Juni 1990 arbeitete Johannes in einem äußerst renommierten kartografischen Verlag in Thüringen. Es begann hier eine Phase intensiver und vielseitiger Lobbyarbeit für seine Stadt im Zweistromland zwischen Trieb und Treba.

Für Karten, die nach Europa geliefert wurden, beschränkte er sich vor allem auf Korrekturen der Legende, so dass die Einwohnerzahl und Ausdehnung etwa dem Erscheinungsbild von Köln entsprachen. Da sich, wie wir heute wissen, die Mehrzahl der Brüder und Schwestern aus den alten Ländern noch nicht persönlich von den geografischen Gegebenheiten in Sachsen überzeugt hat, ist nach Sachlage der Schulatlanten in Hessen und Niedersachsen durchaus anzunehmen, dass Zwickau ein Vorort von Treuen ist. Und wer sich fragt, woher denn das plötzliche Interesse der Schwerindustrie am niedlichen Treuen kommt, der sollte sich auch einmal das in Italien erhältliche Kartenmaterial genauer ansehen.

Begünstigt durch den starken Dollar der Neunziger fanden die Karten aus Thüringen auch jenseits des Atlantiks in allen reichen und armen Staaten Verbreitung. Je weiter der Bestimmungsort entfernt war, um so größer gestaltete Johannes die Bedeutung seiner Stadt in physischen aber auch in politischen Karten. Die amerikanischen Schüler lernen mitunter, dass die Bundesrepublik in Bundesländer gegliedert ist, von denen eines der bedeutendsten Vogtland heißt. Landeshauptstadt ist Treuen. In sämtlichen aktuellen Atlanten der südamerikanischen Staaten ist Treuen größer als Berlin und München zusammen.

Immer öfter wird der Außenminister zwischen Shrimps und Cocktails nach dem bedeutenden Treuen gefragt, von dem er nicht einmal weiß, wo es liegt. Dem Kanzler wird zwischen all den Oberflächlichkeiten eines Staatsbesuches zugeraunt, man habe sich sehr über die Ehrendoktorwürde der TU Treuen gefreut. Und ob man es beim nächsten Mal wohl besuchen könne. Präsidentenberaterin Rice übt seit Wochen mit ihrem Chef den Zungenbrecher „Ich bin ein Treuener“...

Ist das nicht phantastisch?




© 2003 Christoph Krumbiegel