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// hand und fuss

Es ist gar nicht so leicht zu erklären, wie und wann die Sache begonnen hat. Es hängt damit zusammen, dass man sich an die Dinge gewöhnt. Der Mensch beginnt früher oder später, alles was er hat als gegeben hinzunehmen, um sich auf jene Sachen zu konzentrieren, die er noch nicht besitzt. Das ist zwar praktisch und hat uns in der Evolution sicher ein paar Plätze nach vorn gebracht, aber das ist nur die eine Seite. Sind sie schon einmal in einem gemeinsamen Bett aufgewacht und der andere war nicht da, und das, obwohl er seit Jahren dort zu liegen pflegte, wenn sie erwachten? Waren sie diesen winzigen Augenblick lang völlig irritiert, weil ihnen nicht einfiel, weshalb sie sich so alleine wiederfanden? Hatten sie diesen winzigen Augenblick lang das furchtbare und bodenlose Gefühl, der andere sei ihnen irgendwie abhanden gekommen? So ähnlich geht es mir. Nur ganz anders.

Ich duschte ziemlich früh. Es war von vorn herein klar, dass der Tag einiges abverlangen würde, aber so eine Voraussicht lässt mich eigentlich kalt. Es ist gut, wenn der Morgen mit einem klaren Ziel beginnt. Also duschte ich. Dabei trage ich natürlich keine Brille. Ich habe minus fünf Dioptrien, deswegen sehe ich gerade mal noch meinen Nabel scharf. Das ist nicht schlimm, weil ich weiß, was es weiter unten zu sehen gibt. Ich habe es eigentlich erst bemerkt, als ich meine Socken anziehen wollte. Mein linker Fuß hatte plötzlich nur noch vier Zehen. Es war mir sofort bewusst, dass es sich hier um eine Katastrophe handelte. Ich unterbrach erst einmal die Morgenroutine und setzte mich auf den Fußboden. Der Zeh war verschwunden. Man hätte nicht einmal sagen können, welcher der vier kleineren Zehen nun fehlte. Fatalerweise sah alles so aus, als wäre es schon immer so gewesen. Alles lies sich bewegen und hatte eine rosige Farbe. Bis auf mein Gesicht. Das schimmerte aschfahl und zeigte auch wenig Bewegung. Verwirrt sah ich noch einmal in der Dusche nach, ob dort vielleicht zu finden war, was ich vermisste. Als ob ein Zeh einfach so abfällt, wie eine reife Pflaume. Das war in der Tat noch unwahrscheinlicher, als ein spurloses Verschwinden. Wenn so etwas irgendwo auf der Welt schon einmal vorgekommen wäre, dann hätte ich es im Guinness-Buch gelesen. Mit Sicherheit. Ich rief meine Sekretärin an und sagte alle Termine ab. Sie fragte nicht direkt, aber ich erklärte, dass ich eine Magenverstimmung hätte und versprach ihr, sofort einen Arzt aufzusuchen. Als ich auflegte, war mir klar, dass ich das wohl auch wirklich tun sollte. Wenn man einen Auspuff verliert, dann muss man in die Autowerkstatt. Wenn man einen Zeh verliert, dann sollte man zum Arzt.

Doktor Fullroth kuriert auch meinen Vater und meine Tante. Er spielt einmal im Monat mit uns Doppelkopf und verträgt mehr Schnaps als drei Dachdecker. Kurzum, er war der einzige Mensch, mit dem ich überhaupt über mein Problem reden konnte. Er ließ mich auch sofort in sein Behandlungszimmer rufen, obwohl die Sprechstunde erst viel später begann.
Ich redete gar nicht lange und legte ihm lieber meinen Fuß auf den Tisch. Der Doktor pfiff durch die Zähne und holte einen Flachmann aus seinem Schreibtisch. Ich trank auch einen Schluck. Er starrte meinen Fuß an und klopfte mit seinem silbernen Hämmerchen auf ihm herum. Aber wohl eher zum Nachdenken, als aus einem medizinischen Motiv heraus.
»Nun, Christoph, es gibt schon Anomalien dieser Art. Sechs Zehen, vier Zehen oder noch weniger. Ich müsste auch Bilder davon haben. Aber ich kann mich noch ganz gut an deine Geburt erinnern. Du warst ein prächtiges Kerlchen, und ich könnte, verdammt noch mal, schwören, dass an dir alles dran war, wenigstens damals.«
Er legte mir väterlich die Hand auf die Schulter und versuchte, etwas weniger ratlos auszusehen.
»Ich denke es wäre erst einmal eine Sache für den Orthopäden. Ich kenne da einen Kollegen, Doktor Möbius. Ich werde ihn gleich mal anrufen, das ist keine halbe Stunde von hier.«
Er nahm noch einem Schluck als ich ging, und ich versprach, ihn zu informieren, wenn etwas herauskäme.

Doktor Möbius war kaum älter als ich. Er machte einen sicheren und verbindlichen Eindruck. Ich wurde in die Obhut einer Schwester übergeben und wir fertigten eine Röntgenaufnahme von meinen Füßen an. Zwanzig Minuten später rief er mich zur Auswertung herein.
»Ich möchte mal vorsichtig davon sprechen, dass mir die Sache eigenartig vorkommt. Sehen sie, es fehlt eigentlich nichts. Also, natürlich fehlt ihnen etwas, aber es ist nicht nachzuvollziehen, dass etwas nachträglich entfernt wurde. Ihr übriges Fußskelett hat sich so arrangiert, dass es den Verlust des Zehs perfekt kompensiert. Das ist nicht ungewöhnlich, wenn ein solcher Defekt von Geburt an besteht. Aber eine Ausprägung, wie wir sie hier sehen, wächst in Jahrzehnten. Ehrlich gesagt, ich habe natürlich keinen Grund, an ihrer Aussage zu zweifeln, aber es ist schlichtweg unmöglich, dass ihnen ihr Zeh erst seit heute fehlt. Es tut mir leid.«
Er war ehrlich verblüfft, und eine Sekunde lang war ich fast ein wenig stolz auf meinen unerklärlichen Fall. Doktor Möbius legte mich geistig zu seinen Akten. Das konnte man an seinem Gesicht ablesen. Aber ich verstand ihn vollkommen. Wenn er mir auch nur ansatzweise geglaubt hätte, dann wäre er selbst reif für Frau Doktor Bieler gewesen, an die er mich jetzt überwies. Er empfahl sie mir als eine sehr fähige Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie. Fein, jetzt kam Bewegung in die Sache.

Frau Doktor Bieler war mir auf Anhieb sympathisch. Auch die Anamneseerhebung gefiel mir gut, weil sie abwechslungsreich war und das Problem ganz anders beleuchtete, als das bisher durch die beiden Schulmediziner geschehen war.
»Gut Herr Krumbiegel, sie haben diesen Verlust also heute morgen bemerkt. Sind sie sicher, das ihr Zeh erst seit heute fehlt?«
»Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Ich muss zugeben, dass ich mich in der letzten Zeit nicht so sehr um meine Füße gekümmert habe. Also, sie wurden keinesfalls hygienisch vernachlässigt, aber ich denke, ich habe mir in den letzten zehn Jahren sicher niemals bewusst Zeit für meine Füße genommen.«
»Können sie sich erinnern, das früher getan zu haben?« Frau Doktor Bieler schrieb stenografisch mit. Hin und wieder hob sie den Kopf und sah freundlich in mich hinein.
»Nun, als Kind habe ich mich natürlich mit meinem Körper beschäftigt. Daran habe ich lebhafte Erinnerung.«
Sie legte ihren Block beiseite und sah mich direkt an.
»Halten sie es für möglich, dass ihr Fuß beleidigt ist? Ich meine, dass der Verlust des Zehs eine Reaktion auf den Entzug ihrer Aufmerksamkeit ist?«
»Ich interpretiere ihre Frage als rhetorisch.«, antwortete ich und gab damit meiner Irritation Ausdruck. »Zwischen mir und meinem Fuß herrschte stets ein herzliches und kameradschaftliches Verhältnis. Meinen Füßen ist bewusst, dass ich durch meinen Beruf nur sehr wenig freie Zeit zur Verfügung habe. Mein Körper nimmt das nicht nur zur Kenntnis, sondern er ist stolz auf mich.«, gab ich fast schon trotzig Antwort.
Sie lächelte.
»Halten sie es für denkbar, dass nur sie den Verlust sehen, dass es sozusagen einen Fehler in der Eigenwahrnehmung darstellt?«
»Ich hatte eigentlich fast gehofft, dass der Fehler bei mir zu suchen wäre. Aber Doktor Fullroth sah das gleiche wie ich, ohne dass ich ihn darauf hingewiesen hätte. Wobei ich nicht einmal weiß, was für mich die schlimmere Konsequenz bedeuten würde, der Verlust der Wahrnehmung oder der Verlust des Körperteils.«
»Nun, mit einem neurologischen Defekt hätten wir arbeiten können.«, sagte sie. »Ich habe ehrlich gesagt das größere Problem mit ihrem tatsächlichen Befund. Er ist eigentlich nicht pathologisch, zumindest, was die Neurologie betrifft.«
Ich dachte schon, sie wollte mich damit aufgeben. Aber es schien nur so eine Art geistige Zwischennotiz.
»Was empfinden sie angesichts des Verlustes?«, fragte sie weiter.
»Nun, im Moment stört mich eher das wie oder warum. Ich meine, theoretisch kann ich natürlich auf diesen Zeh verzichten, aber es geht mir ums Prinzip.«
Sie lächelte wieder. Die Sitzung dauerte noch eine Stunde. Wir berührten meine Kindheit und das Verhältnis zu meinem Vater. Dann unterhielten wir uns noch ein wenig über das Verschneiden von Edelrosen. Sie brachte mich an die Tür und streckte mir zum Abschied die Hand entgegen. Plötzlich wurde sie kreidebleich. Sie schien das Gleichgewicht zu verlieren, und ich wollte sie stützen. Da sah ich es. Sie hielt mir noch immer den rechten Arm entgegen.

Aber ihre Hand hatte nur noch vier Finger.




© 2003 Christoph Krumbiegel